Systemrelevant. Begleitet von dem, was wir die Corona-Krise nennen, geistert seit Wochen dieses Unwort quer durch unsere Gesellschaft. Ich finde es ganz scheußlich, und mag es gar nicht so gern in den Mund nehmen.
Systemrelevant – da sind alles offenbar gerade Menschen viel, viel wichtiger – und einige andere, wie beispielsweise Kulturschaffende und Künstler*innen, „überflüssig“. Werden gerade nicht gebraucht. Haben erst wieder eine Existenzberechtigung, wenn wir sie uns leisten können. Weil wir uns eben aufs Überleben, aufs Gesundbleiben konzentrieren müssen.
Nun war es vermutlich richtig, die Welt für einige Wochen anzuhalten und die Menschen zu Hause bleiben zu lassen, die nicht dringend gebraucht wurden und werden, um unsere Grundbedürfnisse zu decken.
Doch im Grunde wurde mit diesem Begriff SYSTEMRELEVANZ eine Wunde offen gelegt,
die bereits unbewusst pocht, seitdem wir in einem System leben,
das allein an Gewinnmaximierung und Profitorientierung ausgerichtet ist.
Was Kasse macht, zählt. Und dann gibt es eben Menschen, Produkte und Leistungen, die nicht so viel zählen. Und die muss man sich erstmal leisten können.
Kultur und Nachhaltigkeit zum Beispiel.
Die sind Luxus und erst relevant, wenn wir unsere Basis-Brötchen verdient haben.
Jetzt mag ich Dich fragen, was Du in den vergangenen Wochen am meisten vermisst hast…
hast Du es vermisst,
… dass Du Dir kein Auto kaufen konntest? (Weshalb ich eine Abwrackprämie für Mottenkiste halte, denn sie dient lediglich dazu, eine künstliche Nachfrage für ein Produkt zu erzeugen, dass wir immer weniger brauchen – und keine Frage: Für die Zukunft der Automobilindustrie dürfen behutsame und achtsame Lösungen gefunden werden, für die Menschen, die in ihr tätig sind)
Hast Du es vermisst…
… zu fliegen (ich nehme mal schon an, dass das einige sehr geschmerzt hat)?
… Klamotten zu kaufen?
Was hast Du AM MEISTEN vermisst?
Ich nehme mal an, dass die meisten von uns vermisst haben, Menschen wirklich körperlich nahe zu sein, sie zu umarmen oder auch: Freunde zu treffen, ins Café zu gehen, miteinander zu essen, vielleicht auch ins Kino zu gehen, Kultur zu genießen, Sport zu machen.
Mit dieser Frage möchte ich übrigens keine neue Bewertungsdebatte darüber aufmachen, was und wer wichtiger ist.
Ich mag allerdings Deinen Blick darauf schärfen,
dass die Dinge, die wir am meisten vermisst haben,
oft Dinge sind, die wir nicht kaufen können.
Umarmungen etwa, jemandem die Hand zu halten, jemanden zu spüren, miteinander zusammen zu sein, zu lachen und zu weinen (und zwar in einer realen, nicht in einer virtuellen Begegnung, auch wenn ein tiefes Miteinander auch im virtuellen Raum möglich ist).
Und: Wir haben mehr oder weniger bewusst kulturellen Genuss vermisst.
Denn sie macht unsere Lebensart aus.
Mich hat in den vergangenen Wochen ein Lied sehr berührt. Es ist der Song „Neue Brücken“ des Rap-Künstlers SEOM, den er gemeinsam mit der Künstlerkollegin Annika Dietmann eingesungen hat. Es handelt davon, was wir durch das, was wir die Corona-Krise nennen, erkennen könnten.
Hier kannst Du ihn Dir anhören und anschauen:
SEOM hat diesen Song während der Corona-Krise geschrieben. Er hat ihn geschrieben, weil es ihm ein Bedürfnis war, das mitzuteilen und auszusenden. Bedingungslos. Er hat erstmal keinen Cent dafür bekommen. Denn SEOM ist gerade das, was wir „nicht systemrelevant“ nennen.
Und doch hat er bereits hunderttausende Menschen mit diesem Song berührt.
Ein Song, der wir nebenbei im Radio dudelt und uns beglückt. Ein Buch, das uns in ein Abenteuer hineinzieht, eine Reportage über ferne Länder. Wir brauchen auch das. In guten wie in schlechten Zeiten. Und in Tagen wie diesen sogar ganz besonders.
Kunst und Kultur sind unsere Seelennahrung.
Ohne sie verkümmern wir.
Sie sind systemrelevant.
Weil sie uns unsere tiefe Menschlichkeit spüren lassen.
Weil sie Brücken hin zu unseren Sehnsüchten und Träumen bauen.
Weil sie in Farben, Formen, Tönen und Geschichten das auszudrücken vermögen, was wir mit unseren Alltagsgesten nicht sagen können.
Wir müssen wir uns Kultur leisten. Immer.
Auch schon im Basisprogramm.