Geschäfte und Geschichten mit dem Mindset – und wie daraus ein Mindshift wird.

Seit einigen Jahren werden immer mal wieder entlarvende Enthüllungsgeschichten aus der Coachingszene veröffentlicht: Jan Böhmermanns ZDF-Magazin Royale, Anja Reschke-TV, das Dokuformat „Die letzte Spur“ und einige Sendungen mehr berichteten über dubiose Vorgehensweisen prominenter Coaches. Sebastian Hotz „El Hotzo“ hat sogar im vergangenen Jahr einen Roman mit dem markanten Titel „Mindset“ zum Thema veröffentlicht.

Ich bin bereits seit zehn Jahren in der Szene – und ich muss einem Teil der Beobachtungen zustimmen.

Ja, da ist einiges faul in der Branche…

… so einige „Toptrainer-Coaches“ (oder wie auch immer sie sich nennen mögen) machen ein Riesengeschäft und profitieren davon, dass viele Menschen sich in dieser komplexen und krisengeschüttelten zudem hyperkapitalistischen Zeit nach einem Rettungs-Anker sehnen. Danach, endlich ihre eigene „Erfolgsgeschichte“ zu schreiben, um aus dem Hamsterrad und einem sinnlosen Brotjob, den sie „nur fürs Geld“ machen, aussteigen zu können. Diese Topcoaches zeigen einen möglichen Weg auf, spenden Hoffnung. Die Suggestion: „Du kannst es schaffen, wenn du meine Erfolgsgesetze beachtest.“

Es schmerzt, diese Entwicklungen zu beobachten.

Denn: Ich kann die Not dieser Menschen nachvollziehen, diese Sehnsucht danach sinnstiftend tätig sein zu wollen, sich den Traum von einem guten Leben zu erfüllen, dem Ende dieses anstrengenden Höher-Schneller-Weiter.

Der Soziologe David Graeber forschte einige Zeit zu dieser Thematik und schrieb ein ganzes Buch über diese „Bullshit-Jobs“.

Ja, in derart unbefriedigenden Verhältnissen beschäftigt zu sein, ist ein weit verbreitetes Phänomen, ein Symptom des kapitalistischen Systems, in dem wir Dinge produzieren und kaufen, die wir nicht brauchen, um Menschen zu beeindrucken, die uns gar nicht interessieren, um es mal frei nach Fight Club auszudrücken.

Mindestens genauso schmerzt mich dabei, Zeugin zu sein, wie durch diese krude Coachingmaschinerie die Werkzeuge der Persönlichkeitsentwicklung missbraucht werden und damit dieses kranke kapitalistisches System, das lediglich die persönliche Gier á la „mein Haus, mein Auto, mein Helikopter“ befriedigt und Egoshooter en masse produziert, aufrecht zu erhalten und gar zu befördern. Denn wir könnten die Werkzeuge dafür nutzen, diese strukturellen Systematiken aufzulösen – wir MÜSSEN das sogar tun.

Mindshift: Es braucht Potenzialentfaltung für „große Transformation“

Die Transformationsforscherin Maja Göpel etwa hat eines ihrer Werke „The Great Mindshift“ (der große Bewusstseinswandel) betitelt, in dem sie beschreibt, dass Potenzialentfaltung eine zentrale Rolle dabei spielt, ein neues ökonomisches Paradigma zu entwickeln. Auch der „Club of Rome“ spricht in einem seiner Werke davon, dass es eine neue Aufklärung für eine volle Welt brauche. Methoden der Persönlichkeitsentwicklung sind Teil dieser neuen Aufklärung, befördern Empowerment.

Einige Forscher*innen (u.a. Otto Scharmer) haben diese Werkzeuge der Bewusstseinsentwicklung die Inner Development Goals genannt und sie damit den Sustainable Development Goals, den globalen Nachhaltigkeitszielen, an die Seite gestellt, um zu verdeutlichen, dass es neben den äußeren Zielen eben auch innere Ziele, einen Bewusstseinswandel braucht, wenn wir es denn schaffen wollen, mit der „großen Transformation“, wie Wissenschaftler*innen diese genannt haben. Soziologen wie etwa Harald Welzer sprechen nicht ohne Grund vom Mind Behaviour Gap: Werkzeuge der Persönlichkeitsentwicklung unterstützen uns dabei, diese Lücke vom Wissen zum Handeln zu schließen. Doch aktuell drohen auch diese Werkzeuge der Persönlichkeitsentwicklung in Zuge dieser Enthüllungsgeschichten in Misskredit zu geraten. Das darf nicht passieren.

Ich finde es sehr schade, dass dieser Aspekt in der bisherigen Berichterstattung nahezu keine Beachtung findet. Und es gibt noch weitere Aspekte. Zudem werden die Coaches, deren „Maschen“ da beschrieben werden, nahezu ausschließlich als Sündenböcke, als perfide, geldgeile, gewiefte, seelenlose Manipulateure dargestellt. Das ist sicherlich auch zu vereinfachend. Schließlich verspricht die Prominenz und Reichweite der Coaches viele Klicks und Sharings – solche Aufreger sind ein gefundenes Fressen, gut fürs Geschäft. Medien brauchen diese Sensationen – gerade in diesen schnellen Zeiten. Auch Medien sind also toxisch, vergiftet von kapitalistischen Wachstumserfordernissen.

Jetzt ist hat es auch einen meiner langjährigen Lehrer getroffen. Veit Lindau.

Die Süddeutsche bringt eine große Geschichte über sein „One Experience“, das heute „Phoenix“ heißt, ein 10-tägiges Retreat, in dem eine große persönliche Transformation passiert, ein Phoenix sich aus der Asche gebiert. Die Süddeutsche unterstellt Veit und Andreal Lindau, sie hätten sich zu nachlässig um die Teilnehmer*innen gekümmert. Ich selbst war Teil eines Phoenix-Retreats, habe daran teilgenommen, habe mehrere Kurse bei Veit absolviert, war sogar als Redakteurin für das Online-Magazin Compassioner tätig, das Veit einige Jahre herausgegeben hat. Mal davon ab, dass ich sowohl in meiner beruflichen Tätigkeit als auch durch die Ausbildungen und Retreats, die ich bei Veit durchlaufen habe, unglaublich viel für mein Leben gelernt und ich mich weiterentwickelt habe, schätze ich Veit persönlich als Menschen und als Vermittler von Coachingwerkzeugen sehr – aus folgenden fünf Gründen:

  1. aufgrund seiner Wahrhaftigkeit und Integrität,
  2. weil Veit sich klar für Menschlichkeit und gegen jedwede Form von Diskriminierung und Menschenfeindlichkeit positioniert, wie nur wenige Coaches das tun – so hat Veit vor einigen Wochen noch, und zwar bevor die große Demos gegen Rechtsextremismus begannen, ganz klare Kante gegen die AfD gezeigt und sich auch in der Coronazeit ganz klar gegen Rechts abgegrenzt,
  3. weil Veit für kritisch-konstruktives Denken wirbt
  4. weil er für einen holistischen, komplexeren Ansatz verfolgt, bspw. auch Spiral Dynamics und den integralen Ansatz nach Ken Wilber in seiner Lehre vermittelt,
  5. weil Veit nicht stehen bleiben, sondern fortwährend weiterlernt und sich gemeinsam mit seinen Klient*innen weiterentwickelt.

Für mich ist Veit einer der Vertreter aus der Coachingszene, der verstanden hat, dass wir uns inmitten einer großen Transformation befinden und dass Coaching hier wertvolle Werkzeuge liefern kann, diese Transformation zu meistern, dieses kapitalistische Monster zu bändigen und eine Versöhnung und Heilung zu ermöglichen, mit uns selbst, in unseren Beziehungen und auch mit unserer Mitwelt.

Vor einigen Jahren war Veit in meiner Wahrnehmung noch unbedarfter unterwegs (ich übrigens auch, da entwickeln wir uns wohl im Kollektiv weiter), es waren durchaus auch neoliberale Züge (á la „You can get it, if you really want!“) gerade in seinen Erfolgskursen wahrnehmbar. Das hat sich in den vergangenen Jahren verändert. Dass Veit sich durchaus kritisch mit der Coachingszene auseinandersetzt – und zwar wirklich als einer der wenigen Coaches -, zeigt bspw. ein Interview, das er vor einigen Monaten mit dem Journalisten Martin Gommel, Krautreporter für psychische Gesundheit, führte, der schon einige Enthüllungsgeschichten aus der Coachingsszene veröffentlicht hat.

Dass es Veit nun gerade selbst mit einer derartigen Story erwischt hat – gerade jetzt, wo Veit sich immer selbstkritischer zeigt, mutet da fast wie Hohn an. Und es ist tragisch. Denn neben den fünf Eigenschaften, für die ich Veit als Menschen und auch in seiner Arbeit sehr schätze, hat Veit in meiner Wahrnehmung einen weiteren wertvollen Charakterzug: Veit ist ein Visionär, ein Reformer. Veit – auch in tiefer Verbindung zum integralen Ansatz stehend – ist von dem Anliegen getrieben, das Gute, Wahre, Schöne, in die Welt zu bringen, so schwülstig sich das auch anhören mag. Dass Veit die Welt zu einem besseren Ort machen möchte, ist keine Floskel. Ich weiß das aus unserer jahrelangen Zusammenarbeit.

In diesen komplexen Zeiten, ist niemand von uns unfehlbar.

Ich übrigens ja auch nicht, den eigentlich ist die obige Geschichte ja noch viel, viel komplexer ;-). Coaches machen Fehler, sie werden Opfer ihrer Gier. Klient*innen machen Fehler; ihr Schmerz ist zu groß, sie suchen nach einfachen Lösungen, auch in Form von Coachings. Medien sehen die „große Geschichte“, die Geld in die Kassen spült. Und so drehen wir uns alle weiter, weiter, weiter in diesem Hamsterrad, das sich Kapitalismus nennt.

Oder wir beginnen uns gemeinsam zu verändern. Erstmal, indem nicht einer allein als Sündenbock stehen bleibt. Indem wir alle ehrlicher werden – ehrlicher im Bekennen unserer Fehler, wie auch ehrlicher darin, was wir uns eigentlich wünschen, was wir eigentlich gern hätten jenseits von Ego und Marketingblasen. Jetzt braucht es jemanden, die-der die Hand reicht. Denn wenn es noch was werden soll hier auf dem Planeten, dann brauchen wir nicht nur Mindset-Blabla, wir brauchen einen Mindshift – den, von dem beispielsweise Maja Göpel schreibt. Alle miteinander. Ich bin bereit.