In einem aktuellen Beitrag empfehle und unterstütze ich das Positionspapier „Für ein neues Miteinander und Gesundheitsverständnis: 12 Schritte aus der Corona-Krise“ das ein interdisziplinäres Expert*innen aus Deutschland und Österreich gemeinsam veröffentlicht hat – darunter u.a. der Co-Gründer der Gemeinwohl-Ökonomie und Publizist Christian Felber, die (im Rahmen der Corona-Debatte in der Kritik stehende) Politikwissenschaftlerin und Publizistin Prof.in Dr.in Ulrike Guérot wie auch der ehemalige Präsident der Bundesärztekammer Berlins und Vorstandsvorsitzende des Verbandes der deutschen Präventologen Ellis Huber. Dieses Positionspapier hat einen Vorgänger, das Papier Coronaaussöhnung“, den ich kritisch sehe.[1] Der Vollständigkeit halber fasse ich in diesem Artikel meine Kritikpunkte und etwas Lob, sein Potenzial, an diesem Papier zusammen, das es zweifelsohne birgt.

Meine Einschätzung zu „Covid 19 ins Verhältnis setzen“:

Gute Intention, keine Einladung auf Augenhöhe

Die Intention des Papiers ist zunächst einmal eine gute:

„Wir wollen die Dialogfähigkeit im demokratischen Gefüge stärken und der Vielfalt wie Komplexität des sozialen Lebens gerecht werden. Es ist unser Ziel, die Spaltung unserer Gesellschaft zu überwinden, irrationale Ängste abzubauen und eine Politik zu unterstützen, die dem Gemeinwohl dient.“[2]

Ein lobenswerter Ansatz – zumal damit das Anliegen einhergeht, die Corona-Pandemie nicht nur bezüglich der Maßnahmen zu beäugen, sondern auch ihre Ursachen, ihre sozialen wie psychischen Auswirkungen zu benennen und daraus entsprechende Empfehlungen abzuleiten.

Doch dieser Intention kann das Papier nicht gerecht werden, denn:

Kritikpunkt 1: Es wird für möglich gehalten, die Bundesregierung schüre bewusst Angst

Die Autor*innen mutmaßen, dass die Bundesregierung die Verursacherin der gesellschaftlichen Spaltung sei. Zitat aus dem Dokument:

„Eine solche Vorgangsweise ist keine gesundheitspolitische, sondern eine machtpolitische Strategie, um Menschen gefügig zu machen und die Akzeptanz drastischer Maßnahmen durchzusetzen. Sie wurde von Peter Waibel treffend als Phobokratie bezeichnet: Herrschaft durch bewusst geschürte Angst.“[3]

In einem späteren Abschnitt heißt es:

„Die aktuelle Gesundheitspolitik setzt dagegen auf radikale Bevormundung und Fremdbestimmung (…) Der mündige Patient, der eigenverantwortliche Mensch, die mündige Staatsbürgerin kommt nicht mehr vor.“[4]

Und weiter:

„Statt 80 Millionen Menschen in Deutschland und 8 Millionen Menschen in Österreich zu immobilisieren, zwangszumaskieren und mit Abermillionen von Stäbchen zu drangsalieren, …“[5]

Das ist schon ziemlich harter Tobak!

Ja, die deutsche Bundesregierung (ich mag mich hier auf die deutsche Bundesregierung beschränken) hat drastische – und auch debattierte – Einschränkungen vorgenommen und wie wir wissen, im vergangenen November auch aufgrund einer pandemischen Notlage die Grundrechte teilweise außer Kraft gesetzt, aber hier zu mutmaßen, das könne eine bewusste Strategie sein, geht eindeutig zu weit. Eine solch heftige Unterstellung macht einen Dialog nahezu unmöglich.

Kritikpunkt 2: Das Positionspapier schlägt sprachlich über die Stränge

Als eines der Resultate daraus konstatieren die Autor*innen die Zunahme der sprachlichen Gewalt, die mit der Verordnung der Corona-Maßnahmen einherginge – mit Diffamierungen und Etikettierung wie Impfgegner, Coronaleugner, Covidiot etc. Vor allen Dingen würden die Menschen, die den Maßnahmen gegenüber kritisch eingestellt sind, beschimpft.

Doch auch die Autor*innen dieses Positionspapier nehmen sich da nichts. Im vorigen Kritikpunkt habe ich bereits eine Passage zitiert, in der die Autor*innen des Papier in meinem Empfinden zu weit gehen. Die Autor*innen verwenden Triggerworte wie „Rohrstockstaat“ (als wäre mit den Coronamaßnahmen der Rohrstock wieder eingeführt worden), „Ungereimtheiten“, „Zwangsmaßnahmen“ oder „Kollerateralschäden“, die nahelegen wir lebten in einem Obrigkeitsstaat und das Narrativ stützen, hier könne sich eine Diktatur etablieren. Diese Tonart fließt immer mal wieder ins Papier ein, etwa wenn sie schreiben:

„Lockdown bezeichnet eigentlich das Einsperren von Häftlingen in Zellen, damit sie nicht randalieren.“[6]

Damit bewegen sich die Autor*innen auf sehr dünnem Eis, denn diese Argumentation wird sicherlich nur allzu gern von Populist*innen aufgegriffen – so auch geschehen, denn bspw.  Gunnar Kaiser, Philosoph, Autor und Youtuber, der mehrfach durch Äußerungen auffiel, die Fragen aufwerfen.[7] Zudem ist diese Wortwahl (ab)wertend und trägt nicht gerade zur Versachlichung der Debatte bei.

Kritikpunkt 3: Unterstellung, die Bundesregierung beanspruche die Wahrheit für sich

Das Positionspapier wird eingeleitet mit den Worten eines der Autoren des Papiers, dem Kinderarzt Martin Hirte:

„Wer einen Ausschnitt der Wirklichkeit als Wahrheit propagiert, der spaltet die Gesellschaft.“[8]

In einem späteren Abschnitt des Papiers heißt es:

„Wieso werden „Fakten-Checks“ von selbst ernannten Wahrheits-Richter*innen nur an Kritiker*innen von Zwangsmaßnahmen durchgeführt und warum gehen sie in der Regel zuungunsten der Gecheckten aus? Es scheint plötzlich eine einzige – nämlich regimetreue – „Wahrheit“ zu geben.“[9]

Dann wird diese Ausführung auch noch fragwürdig untermauert mit:

„Die Politologin Ulrike Guérot weist darauf hin, dass das unkritische Hören auf „die Wissenschaft“ sich schon öfters in der Geschichte als Verhängnis erwiesen hat: Inquisition, wissenschaftlicher Marxismus, Rassentheorie.“[10]

Womit das Agieren der Bundesregierung wiederum in die Nähe einer Diktatur gerückt wird, was sie nicht ist.

Außerdem ist es schon sehr gewagt, zu behaupten, die Bundesregierung beanspruche, die Wahrheit für sich gepachtet zu haben. Dies entspricht nicht dem von vielen Kurskorrekturen und von Fehlereingeständnissen gezeichneten Handlings dieser Pandemie. Freilich lässt sich bemerken, dass das Spektrum der hinzugezogenen Expert*innen ein breiteres hätte sein können.

Kritikpunkt 4: Verharmlosung anitdemokratischer Strömungen

Im Papier bemerken die Autor*innen außerdem die Kritiker*innen würden häufig

„reflexhaft … mit rechtsextremen in Verbindung gebracht oder gleichgestellt. Speziell die Demonstrationen werden pauschal in die rechte Ecke geschoben, obwohl sich an diversen Großdemonstrationen nach zahlreichen Augenzeug*innenberichten überwiegend friedliche, gewaltfreie, reflektiere und konstruktive Staatsbürger*innen beteiligten.“[11]

Hier lässt sich zum einen zugeben, dass hier wiederum viele Medien und auch die Bevölkerung mutmaßlich zu wenig differenziert hat. Das hängt meiner Ansicht nach mit der tiefen Verunsicherung zusammen, die uns antidemokratisches Agieren und Äußern bei uns hinterlässt, so dass wir sie pauschal wegschieben müssen. Doch die Problematik, dass diese Demonstrationen von Rechten benutzt wurde, um ihre Positionen mit den friedlichen Anliegen zu „beflecken“ und die Demokratie zu diskreditieren, hat sich spätestens mit dem versuchten Sturm des Reichtags Anfang 2020 gezeigt. Ein Seit an Seit von friedlichen Staatsbürger*innen ist gefährlich, das legte der Spiegel-Kolumnist und Autor des Buchs „Realitäts-Schock“ Sascha Lobo bestens in einem Live-Kommentar dar:

„Der gefährlichste Moment auf der Demo war, als Peter und Cordula, zwei Impfgegner aus Stuttgart, ganz entspannt vorbeigelaufen sind an einer Reichsflagge. Diese Reichsflaggen gab es auf dieser Demo zuhauf und neben diesen Flaggen sind ganz entspannt Menschen spaziert, die ich eigentlich für etwas anderes demonstrieren wollten. Das war der gefährlichste Moment auf der gesamten Demonstration. Denn damit haben Menschen, die nicht rechts sind und auch nicht rechts sein wollen die Reichsflagge als ein ganz normales Symbol hingenommen. Sie haben Rechtsextremisnus und das Symbol des Rechtsextremismus einfach so in die Debatte integriert. Und die Reichsflagge ist nicht anderes als die Hakenkreuzflagge für Leute, die sich nicht trauen mit dem Hakenkreuz zu wedeln.“[12]

Im übrigen wurde im Vorfeld bspw. der besagten Demonstration am 29.08. in internen Chatgruppen zu Gewalt aufgerufen.[13] Zudem hatten die Veranstalter*innen auf ihre Hauptbühnen Redner*innen eingeladen, die als populistisch, antidemokratisch, ausländerfeindlich und homophob bekannt sind – bspw. Heiko Schrang.[14] Dass es hier im Sommer-Herbst 2020 eine brisante, die Demokratie gefährdende Entwicklung gegeben hat, die sich weiter fortsetzt, ist nicht zu unterschätzen und zu verharmlosen. In diesem Kontext sehr zu empfehlen ist ein Papier des

Kritikpunkt 5: Eine polarisierende Zusammenfassung und Gegenüberstellung

Dem dritten Abschnitt des Papiers Schlussfolgerungen ist eine Gegenüberstellung vorangestellt, die wiederum Triggerworte „Zwangsmaßnahmen“, „Entmündigung“, „Rohrstockstaat“ wiederholt und damit erneut polarisiert, die wertend und unsachlich sind. Die eigentliche Intention des Papiers ist nun, versöhnlich zu wirken. Derartig zu triggern provoziert und ist keine Handreichung der Seite, die man kritisiert. So liest sich keine versöhnliche Kommunikation.

Weitere kritische Einschätzung des Papiers: ARD-Faktenfinder

Auch die Redaktion „Faktenfinder“ der Tagesschau sieht das Papier kritisch und befindet:

„Wie die Gruppe einen Aussöhnungsdialog auf Augenhöhe erreichen will, ist fraglich – und die aufgestellten Thesen lassen umso mehr daran zweifeln: Viele klingen weniger nach Versöhnungsangeboten als nach Konfrontration.“

Auch bemängelt die Faktenfinder-Redaktion, dass „widerlegte Behauptungen, beispielsweise zu Obduktionen, dem PCR-Test und Intensivbetten wiederholt“ würden:

„Ohne Belege raunen die Autorinnen und Autoren von möglicherweise Millionen Toten durch die Corona-Maßnahmen. Untermauert werden die Forderungen unter anderem mehrfach mit der „Impfstudie“ des Psychologen Harald Walach, obwohl diese wegen mehrerer Fehler, die die Interpretation der Ergebnisse grundlegend beeinflussen, von dem veröffentlichenden Journal zurückgezogen wurde.“[15]

(Ich selbst bin nicht in der Tiefe bewandert, was diese Studien angeht, und werde es nie sein. Daher kann ich die Argumentation beider Seiten in diesen Punkten nicht valide einschätzen. So ist es mir wichtig, die Argumentation des ARD-Faktenfinders hier wiederzugeben.)

Doch die Einschätzung des ARD-Faktenfinder-Redaktion zum Coronaaussöhnungs-Positionspapier enthält auch einen versöhnlichen Satz:

„Das Thesenpapier mag trotz seiner Mängel als Grundlage zu Diskussionen dienen.“[16]  

Das wünsche ich diesem Thesenpapier – und vor allen Dingen seinem Nachfolgepapier – wirklich. Denn ein Teil dieses Positionspapier setzt sich mit den Ursachen und weitreichenderen Auswirkungen von Corona abseits der Maßnahmen-Debatte auseinander und liefert hier wertvolle Denkanstöße, die im Nachfolgepapier „12 Schritte aus der Coronakrise“ aufgegriffen werden. Es geht hier u.a. ein weitreichenderes Gesundheitsverständnis, die Notwendigkeit des Etablierens einer nachhaltigeren Wirtschaftsweise innerhalb der planetaren Grenzen wie auch die Berücksichtigung der sozialen Dimension von Covid-19.

***********

[1] Beide Papiere und das Medienecho dazu sind hier abzurufen: https://coronaaussoehnung.org/ – abgerufen am 08.11.2021

[2] S. 2 des Papiers – https://coronaaussoehnung.org/wp-content/uploads/2021/07/Corona_ins_Verhaeltnis_setzen_Update_15-Juli-2021.pdf  – abgerufen am 08.11.201

[3] S. 7 ebd.

[4] S. 55 ebd.

[5] S. 56 ebd.

[6] S. 13 ebd.

[7] https://www.welt.de/kultur/article225254427/Gunnar-Kaiser-hat-die-rote-Linie-ueberschritten-Ein-Kommentar.html – abgerufen am 08.11.2021

[8] S. 4 – https://coronaaussoehnung.org/wp-content/uploads/2021/07/Corona_ins_Verhaeltnis_setzen_Update_15-Juli-2021.pdf  – abgerufen am 08.11.2021

[9] S. 32 ebd.

[10] S.32 ebd.

[11] S.29 ebd.

[12]https://fb.watch/98OaNcO43g/ – abgerufen am 08.11.2021.

[13] Hier beispielhaft dokumentiert: https://www.volksverpetzer.de/bericht/waffengewalt-demo-verbot/ – abgerufen am 08.11.2021

[14] https://correctiv.org/faktencheck/hintergrund/2018/12/14/falsch-verschwoert-verwirrt-eine-reise-durch-dunkel-youtube/  – abgerufen am 08.11.2021

[15] https://www.tagesschau.de/faktenfinder/corona-ausssoehnung-101.html – abgerufen am 08.11.2021

[16] ebd.