Die Pandemie schüttelt uns ALLE durch, reißt jahrzehntelang bewährte Formen unseres Miteinanders unter unser aller Boden hinweg. Corona rüttelt an den Grundfesten unseres Zusammenseins. Viele Debatten rund um Corona werden oft hochemotional geführt, entzweien sogar Familien.

Doch warum ist das eigentlich so? Meiner Ansicht nach hat das vor allem einen tiefverwurzelten Grund.

Der Muff von tausend Jahren

Wir sind jetzt gefragt, der politischen Führung zu vertrauen – einer Führungsriege, die, zumindest trifft dies für einige Regierungsvertreter*innen zu, eine nicht ganz lupenreine Weste haben könnte (Maskendeals und Co., und in Österreich ist es mit einem ehemaligen Bundeskanzler Kurz, der unter Verdacht steht, seine Wahl manipuliert zu haben, noch einmal eine ganz andere Nummer). Und dann passierte da – Monate nach Bekanntgabe einer pandemischen Notlage – auch noch das Ungeschick, das Wort „Ermächtigung“ in einen Gesetzestext einzuflechten…

Das macht etwas.

Corona fasst ein Thema an, das wir noch immer irgendwie gedeckelt hielten. Aus guten Gründen.

Einer der Effekte von Corona ist – zumindest im deutschsprachigen Raum – auch ganz tiefsitzende Ängste zu schüren, Erinnerungen wachzurufen, Traumata offenzulegen, die tief in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt sind und die wir als Gesamtgesellschaft bisher noch nicht komplett aufzuarbeiten imstande waren.[1] Weil sie die Generationen vor uns so erschütterten, dass sie nicht aussprechbar waren und teils mit Lügen verhüllt werden mussten, wäre es doch sonst unerträglich geworden. Es müffelt noch immer unter den Talaren. Nicht nur unter Talaren, überall eigentlich. Die 68er-Bewegung vermochte nicht, diesen Muff zu bereinigen. Es war noch zu früh. Bis heute. (Und vermutlich können wir auch heute noch nicht komplett hinschauen.)

Die eine Frage

Unabhängig davon, dass unser aller Gesundheit gefährdet ist, konfrontiert uns Corona mit dem „Unbenenn- und nicht Erklärbaren“, dem diktatorischen Dämon, liefert uns der Frage aus:

„Darf und kann ich dieser Führung folgen? Bin ich wach (genug)? Darf ich (ver)führt werden? Wem darf ich mich anvertrauen?“

Sie lässt so einige von irrational werden. Es ist die eine Frage, die wohl für viele von uns Deutsche mitschwingt aufgrund unserer kollektiven gemeinsamen Geschichte, in der ein Volk einem Diktaktor folgte, der es dazu brachte, einen Genozid zu versuchen und allein sechs Millionen Juden tatsächlich zu ermorden – von den geschätzt 80 Millionen Toten des Zweiten Weltkrieges – einer Folge dieses Geschehenlassens und Mittuns – einmal abgesehen. Die eine Frage lautet:

„Wäre ich bewusst genug gewesen? Was wäre meine Rolle gewesen? Hätte ich mich schuldig gemacht? In welcher Rolle bin ich, wenn es einmal wieder Spitz auf Knopf steht? In welcher Rolle bin ich JETZT?“

Eine tiefsitzende Angst   

SO ist es zu erklären, dass – und nun verwende ich, der Einfachheit und Anschaulichkeit halber und im Bewusstsein, dass die Realität weitaus komplexer ist, das Bild zweier Schubladen „Pro“ und „Contra“ – auf der einen Seite eine Gruppierung von Menschen, die das Herannahen einer Diktatur wähnt(e), während auf der anderen Seite eine Gruppierung sich vor allem auf den Teil der Kritiker*innen fokussiert, die Corona als Mittel zum Zweck einer Weltverschwörung der Eliten entweder in der Tat ansieht oder – noch perfider – diese Erzählung sogar benutzt, um dem demokratischen System zum Einsturz zu verhelfen.

Das Poppersche Toleranz-Paradoxon[2] hin oder her: Den Umgang mit Antidemokrat*innen und auch dem vermeintlich Antidemokratischen, das arglos einfach „mitläuft“ und sich benutzen lässt, haben wir noch nicht gelernt, weil uns die Begegnung damit zutiefst verunsichert. Deswegen ist derzeit die einzig mögliche Reaktion, Antidemokrat*innen und denen, die eigentlich in einer anderen Intention unterwegs sind, aber damit vermengt werden, „den Riegel vorzuschieben“. Im Hinblick darauf kommunizieren wir derzeit noch: alternativlos. Die Fragen, wie dem adäquat zu begegnen ist, um Lösungen herbeizuführen, bleiben.

Dies ist meiner Ansicht nach einer der zentralen Gründe, warum uns dieses Thema Corona so anfasst und polarisierend wirkt. Der Muff von tausend Jahren, er begleitet die Corona-Debatte. Mit jeder Verordnung von Corona-Maßnahmen, selbst durch eine demokratisch legitimierte Regierung.

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[1] Zum Thema „Kollektive Traumata“ siehe vor allen Dingen die Buchveröffentlichung von Thomas Hübl (2021) „Kollektives Trauma heilen: Persönliche und globale Krisen verstehen und als Chance nutzen“

[2] Dazu gibt es ein bemerkenswertes Video von Sascha Lobo vom 30.08.2021, das er als Reaktion auf die Groß-Demonstration vom 29.08. und den versuchten „Sturm des Bundestages“ aufgenommen hat.: https://fb.watch/98OaNcO43g/