– und was „Mindset“, „Kulturwandel“ und vielfältige Emanzipations- und Toleranzbewegungen damit zu tun haben

„Wir werden eurer Fähigkeit, Schmerzen zuzufügen,
unsere Fähigkeit, Schmerzen zu ertragen, entgegensetzen.
(Martin Luther King „The Trumpet of Conscience“)

Vorbemerkung: Dieses ist der erste Entwurf eines Essays, der vor kurzem recht rasch entstanden ist. Noch ist er meinem Gefühl nach nicht rund, ich veröffentliche in dennoch – im Wissen darum: Er wird sich noch verändern, verfeinern. Insofern danke ich dir ganz besonders für dein Feedback. Es hilft mir, weiter daran zu feilen.

„Arbeitsplätze, Arbeitsplätze“, „Deindustrialisierung“, „Deutschland hängt sich ab“, „Grüne Ideologie“

Diese Parolen werden immer wieder aufgerufen, wenn es an den Umbau der Wirtschaft geht, wenn Politiker*innen unsere Wirtschaft zumindest annähernd auf einen 1,5 Grad-Pfad bringen wollen. Es macht den Eindruck, dass hierzu sogar bewusst Kampagnen inszeniert werden, Unreines aufgedeckt und groß gemacht wird. Eine Vetternwirtschaft findet sich immer irgendwo. Der Grund: „Bloß nicht unseren Wohlstand dezimieren; uns geht´s doch so gut! Unsere Besitzstände mit ihren derzeitigen Machtverhältnissen müssen mindestens gewahrt bleiben, wenn nicht sogar ausgebaut. Ansonsten: Nach uns die Sintflut.“  

Dabei gerät folgendes in Vergessenheit:

„Diese Wirtschaft tötet.“

Papst Franziskus in „Laudato si“

JJJ

Diese Wirtschaft tötet uns alle miteinander, auch die Privilegierten

Das Schizophrene ist: Mit dieser bisherigen Wirtschaftsweise zerstören wir nicht nur unsere Lebensgrundlagen und beuten die Ressourcen des Planeten Erde aus; die Ausbeutung tun wir auch uns selbst an. Davon kündet seit Jahren die Zunahme psychischer Erkrankungen. Der Kulturanthropologe David Graeber widmete dem Phänomen der „Bullshit-Jobs“ ein ganzes Buch. Doch damit sind nur die Effekte für viele Menschen, die im globalen Norden leben, benannt; Menschen im globalen Süden leiden nach wie vor unter den Nachwirkungen von Kolonialismus und Imperialismus.

Damit begann die Geschichte ihrer Armut – und sie setzt sich fort. Damit begann die Geschichte des Reichtums der reichen Menschen der nördlichen Erdhalbkugel; denn auch in den wohlhabenden Ländern profitieren auf Dauer nur die wirklich Reichen. Ein Ende dieses Teufelskreises ist nicht absehbar; es ist eine Täuschungserzählung, dass der globale Süden in der derzeitigen Wirtschaftskonstruktion jemals zum globalen Norden aufschließen könnte.

Die Folgen: Millionen von Klimaflüchtlingen werden entweder sterben oder ihre neue Heimat im Norden zu suchen beginnen (übrigens wurde das bereits in den 80er Jahren in dem Erdkundeunterricht, den ich in besuchte, schon thematisiert!); Millionen hart arbeitender Menschen in den reichen Ländern verarmen immer mehr. Ja, DIESE Wirtschaft tötet. Schließlich uns alle – bis vielleicht auf einige wenige Superreiche, die sich mit ihren Spaceshuttles auf einen fernen Planeten beamen können. Doch auch ihre weitere Existenz ist ungewiss: Dort könnte so mancher Bronteroc lauern, um sie unmittelbar zu töten.

JJJ

„Don´t look up“ lässt grüßen.

Warum machen wir dennoch immer weiter so?

Warum verteidigen also so viele Organisationen und Menschen diese Wirtschaftsweise mit allen Mitteln und kämpfen für ihren Erhalt, wenn sie allen und allem mehr schadet als zuträglich zu sein? Und glauben wir, wirklich nur innerhalb dieses Systems, das Wachstum bedingt, ein wohlhabendes Leben realisieren zu können? Und wie definiert sich Wohlstand überhaupt? Und gibt es wirklich nur diesen einen Wirtschaftsweg?

JJJ

Halt! Stop! Da wäre noch die „Glücks-Ökonomie“    

„Glücks-Ökonomie“ – so heißt das großartige Buch von Annette Jensen und Ute Scheub, eines der ersten Bücher neben der Gemeinwohl-Ökonomie von Christian Felber, die ich vor knapp 10 Jahren zu verschlingen begann. Es kündete davon: „Ja, eine alternative Ökonomie ist möglich, es gibt nicht nur das Paradigma des monetären Profits und Wachstums.“ Das Buch „Glücks-Ökonomie“ zeigt, wie groß die Zahl der Lösungsansätze ist, wie viele Projekte es schon jetzt in der Realität gibt, ein gutes Leben für alle zu schaffen. Transition Towns. Ökodörfer. Regionalwährungen. Gemeinwohl- und Donut-Ökonomie. Und vieles, vieles mehr. Glücks-Ökonomie – so hieß auch die erste Veranstaltung einer dreiteiligen Eventreihe “Anders leben. Besser wirtschaften“ (ermöglicht von der Stiftung Leben und Umwelt, hier der Link zur Veranstaltungsdokumentation), in der wir bereits vor knapp zehn Jahren einige Beispiele alternativer Projekte, die auch in Hannover bereits erblühten, sichtbar machten.

JJJ

Vom Katastrophenjournalismus zu Geschichten des Gelingens

Bei dieser Veranstaltung hatte wir Annette Jensen selbst, Co-Autorin des Buchs Glücks-Ökonomie, zu Gast. Neben ihrer taz-Kollegin und Co-Autorin Dr. Ute Scheub ist Annette wohl eine der deutschen Pionier*innen eines konstruktiven Journalismus – noch bevor diese journalistische Disziplin ihren Namen erhielt. Annette und Ute waren beide bspw. als Autorinnen für die Stiftung Futur II tätig, sammelten die allerersten Geschichte des Gelingens. Annette berichtete bei der damaligen Veranstaltung von ihrer Niedergeschlagenheit, die ein Journalismus im Krisen-Modus bei ihr erzeugte, ein Journalismus auf Basis von Nachrichtenwerten, die unser Katastrophenhirn füttern. Sie erzählte auch von der Sehnsucht danach, Geschichten der Hoffnung zu erzählen – wie auch davon, dafür belächelt zu werden und als Utopistin, gar als Träumerin, abgetan zu werden. Sogar bei einem progressiven Medium wie der taz.

JJJ

Drohkulissen und Dreck? Bange machen gilt nicht.

Denn da sind ja noch die Medien, die die bisherige Welt verteidigen – die Medien, die genauso heißen; jene, hinter denen große Netzwerke mit viel, viel Geld stehen. Trotz der Drohkulissen und Schmutzkampagnen, die von ihnen ausgehen: WIR, die wir für diese alternativen Wirtschaftsweisen, für diese Utopien, einstehen, lassen uns nicht bange machen. Wir gehen weiter. Viel weiter. Weil das alles viel weiter reicht und tiefer geht.

JJJ

Into the deep: The Great Mindshift – nicht nur Wärmepumpen & Windräder

Denn es braucht nicht nur die neuen Technologien, über die in den vergangenen Monaten so viel debattiert wird. Es braucht nicht nur Wärmepumpen und Windräder, nicht nur die Energiewende, Verkehrswende, Wärmewende und vielfältige weitere Wenden. Es braucht auch ein neues Paradigma. Es braucht „The Great Mindshift“ – wie Maja Göpel ihr wohl erstes Buch betitelt hat, erschienen im Jahr 2016 (meiner Meinung eigentlich ihr wichtigstes Buch, wenn auch bei weitem nicht ihr bekanntestes).

Ein zentraler Schlüsselbegriff von „The Great Mindshift“ ist MINDSET, eine neue Haltung, die es für einen tiefgreifenden Kultur- und Bewusstseinswandel brauche. Mit einem neuen Mindset würden wir in der Lage sein, unsere kognitiven Dissonanzen wahrzunehmen und aufzulösen – unseren permanenten Selbstbetrug, der uns immer mehr Ressourcen verschleißen lässt, anstatt genügsam zu agieren.

JJJ

Mindset und Kulturwandel: Bullshit-Bingo und Broschüren-Deutsch?

Blöderweise sind gerade diese beiden Worte MINDSET und KULTURWANDEL in Verruf geraten.

Mindset = nur Bluff windiger Business-Coaches?

„Mindset“ heißt der gerade erschienene Romanerstling von Sebastian Hotz (El Hotzo), der von einem selbsternannten Business-Coach handelt, der mit Mindset-Trainings den Ausstieg aus seinem faden Nine-to-five-Job packen will. Mit Mindset-Trainings, die das neoliberale „Höher-Schneller-Weiter“ repetieren und jedem-jeder den maximalen Durchbruch à la Dagobert Duck verheißen, der diese Erfolgsprinzipien beherzigt. Kein gutes Ende der Geschichte: Der Business-Coach scheitert; er landet vermutlich wieder an seinem klassischen Arbeitsplatz. Und so schafft er wohl bis heute.

JJJ

„Kulturwandel“ = das neue Greenwashing?

„Kulturwandel“ lautet ein Kapitel des neuen, vieldiskutierten Romans „Noch wach?“ von Benjamin von Stuckrad-Barre. Doch dieser „Kulturwandel“ ist Fake, im Grunde eine Art neues Greenwashing à la: „Traue keinem Unternehmen, das von sich sagt, es durchlaufe einen Kulturwandel und läute Compliance-Verfahren ein. Gerade dort liegt vermutlich was im Argen. Kulturwandel ist ein Feigenblatt.“ Stuckrad-Barre tat in einem Interview den Begriff „Kulturwandel“ wie folgt ab: „Das ist doch nur Broschürendeutsch.“

Übrigens: Stuckrad-Barres „Noch wach?“ endet ähnlich verzweifelt wie „Mindset“ von Sebastian Hotz: Das Erzähler-Ich sitzt am Ende der Erzählung verzweifelt am Pool des Chateau Marmont; der des Machtmissbrauchs verdächtigte Chefredakteur eines TV-Senders ist wieder im Amt; Rose McGowan, eine der Initiator*innen des #Metoo-Skandals um Harvey Weinstein, muss ihr Haus verkaufen, weil sie als Schauspielerin abgeschrieben ist. Wirklicher Wandel? „Heute jedoch nicht“ lautet das Schlusskapitel des Romans.

JJJ

Am Ende? GUT. Hoffentlich.

Denn Mindset und Kulturwandel können weiter reichen.

Nun, auch wenn das reale Leben – zumindest derzeit – dieser Tristesse der beiden Romane gleicht: Es geht weiter, kann weiter reichen. Die Reflektor*innen, kritische Beäuger*innen der Missstände und Schräglagen unserer Zeit sind diverse Künstler*innen – häufig Satiriker*innen und Wortakrobat*innen aller Couleur – die Sophie Passmanns, Sibylle Bergs, El Hotzos, Mondschaf23s und Jan Böhmermanns dieser Zeit. Sie halten uns den Spiegel vor. Das ist ihr Job. Die Frage ist, was wir mit diesen Vorhaltungen anfangen. Wir müssen da ja nicht stehen bleiben.

JJJ

Vom Egotuning zum wirklichen Teamwork

Es liegt an uns, ob wir Mindsets, Werkzeuge der Persönlichkeitsentwicklung, lediglich für unsere persönlichen Schollen, unser „Mein Haus, mein Auto, mein Boot“ einsetzen und damit die neoliberale Erzählung wiederholen, oder ob wir Weiterführendes wagen, das über unsere ganz individuellen Komfortzonen hinaus reicht, ob wir dieses Egogetune ablegen und uns sinnstiftendem Gemeinwohlstreben zuwenden.

Kulturwandel = Mindset-Updates im Kollektiv

Und Kulturwandel? Ja, den braucht es auch. In allen gesellschaftlichen Bereichen. Nicht die Worthülse, sondern den wahrhaftigen Prozess.

Kulturwandel, das bedeutet gemeinwohlorientierte Mindset-Updates im Kollektiv zu vollziehen.

Die vielfältigen emanzipatorischen Bewegungen dieser Zeit – #Metoo, #Metwo, Black Lives Matter, LGBTQ+ uvm. – sie alle zeigen: Unsere alten Rollenbilder passen nicht mehr; wir haben die Korsetts unserer Identitäten viel zu eng geschnürt. Sie begehren nach Befreiung und Befriedung. Nach etwas, das kein Geld dieser Welt bescheren kann (auch wenn freilich Wohlstand uns ermöglichte, uns mit unseren wahrhaftigen Identitäten, mit dem, was wirklich in uns steckt, zu beschäftigen und es heraus zu befördern). Ja, es braucht ein neues Mindset. THE GREAT MINDSHIFT:

JJJ

Ein Reminder: Gesegnete Unruhe

Auf den ersten Blick scheinen diese emanzipatorischen Bewegungen ein „eigenes Ding“ zu sein. Doch sie sind zutiefst auch mit dem ökologischen Wandel verbunden. Ökologischer Wandel ist genauso Bewusstseinswandel. The Great Mindshift. Deshalb sind auch Emanzipationsbewegungen essenzieller Teil des sozial-ökologischen Wandels, bedingen ihn mit. Sie sind Teil eines vielfältigen Mosaiks, Teil von „The Blessed Unrest“, der „Gesegneten Unruhe“, die Paul Hawken bereits im Jahr 2007 skizzierte:

„Die Bewegung, von der ich spreche, passt nicht in dieses gängige Klischee; sie ist zersplittert, uneinheitlich und sehr individuell. Es gibt kein Manifest, keine übergeordnete Doktrin und keine übergreifende Autorität, die sagt, was zu tun ist. Sie zeigt sich in Klassenzimmern, auf Bauernhöfen, im Urwald, in Dörfern, in Firmen, in Wüsten, in Fischereigebieten und in Slums – ja, sogar in vornehmen New Yorker Hotels. Diese Bewegung unterscheidet sich von herkömmlichen Bewegungen dadurch, dass sie immer mehr als humanitäre Bewegung in Erscheinung tritt, die sich von unten nach oben organisiert. … Es handelt sich hierbei um die größte soziale Bewegung in der Geschichte der Menschheit.“  (aus: „Wir sind der Wandel – Warum die Rettung der Erde bereits voll im Gang ist und kaum einer es bemerkt“ von Paul Hawken, S. 10 f.)

JJJ

Ein Bollwerk gegen die Mächtigen

Wenn wir imstande sind, die vielfältigen Aufbruchsbewegungen, die wir derzeit erleben – so unterschiedlich und zusammenhanglos, sie auf den ersten Blick auch sein mögen – als einen großen Zusammenhang zu begreifen, als EINE Bewegung, dann sind wir ein großes Bollwerk gegen alle reaktionären Bewegungen, die ihren Status quo wahren wollen, weil diese Veränderung für sie unangenehm werden könnte.

Die riesige Gruppe der vielfach Diskriminierten

Entscheidend wird es sein, eine Verbindung zu einer großen, ebenfalls vielfältigen deprivilegierten Gruppe zu schaffen, die bisher dazu tendierte, sich entweder gar nicht zu positionieren oder aber sich reaktionären, populistischen Kräften anzuschließen. Die Rede ist von der Gruppe der Geringverdiener, von den „Abgehängten“ und Kranken, von denen, die oft auch aufgrund ihrer Herkunft keine gute Bildung genießen konnten, von denen, die keine Stimme haben, von denen, die unter Klassismus und häufig intersektionellen Diskriminierungen leiden. Denn bisher werden diese vielfältigen Bewegungen, die ich skizzierte, vornehmlich von privilegierten, gebildeten – und ja: meist weißen Menschen getragen.

Ängste schüren, Transformation blockieren

Bisher neigen sie, wie geschrieben, eher dazu, sich zu den lautesten Stimmen zu gesellen, sich einfach anzupassen – auch weil die lauten Erzählungen die Drohkulissen von Arbeitslosigkeit und Inflation aufbauen. Es hat auch einen Grund, warum Christian Lindner, direkt nach der Veröffentlichung des unsäglichen Koalitionspapiers, das der Verkehrswende einen Riegel vorschob, ein weiteres Mal die Vereinbarungen der Ampel-Koalition torpedierte und behauptete, die Kindergrundsicherung sei nicht zu finanzieren – nachdem die Ampelkoalition gerade beschlossen hatte ,rund 100 Milliarden Euro in den Straßenbau zu investieren (zum Vergleich: die Kindergrundsicherung würde 12 Milliarden Euro kosten, also vergleichsweise wenig). Hier möchte jemand Angst machen – und prescht zudem aus der Reihe, schießt seine Koalitionskolleg*innen an, obwohl er diesem Vorhaben zuvor zugestimmt hatte.

JJJ

Wir dürfen cleverer sein.

Wir dürfen die große Gruppe der vielfach Unterdrückten direkt adressieren und in unsere Lösungen einbeziehen, eine Sprache finden, die sie mitnimmt. Wir müssen sie integrieren. Wenn uns das gelingt, dann können wir unaufhaltbar sein. Dann ist eine Glücks-Ökonomie zwar noch ein gutes Stück entfernt, sie wird aber wahrscheinlicher.

JJJ

Wenn du das spannend findest:

Mein Buch MAKE WORLD WONDER skizziert die letzten Jahrzehnte als Aufbruchsgeschichte und macht dir Lust darauf, Teil der sozial-ökologischen Wandels zu werden

Hier findest du eine Literaturzusammenstellung zum Thema alternative Wirtschaftsweisen