In diesen Tagen schnellen die Corona-Inzidienzwerte wieder in die Höhe. Ein erneuter Lockdown (für Ungeimpfte?) steht im Raum, von einer Pandemie der Ungeimpften[1] ist die Rede. Derzeit bietet wohl eine Impfung – trotz zu verzeichnenden Impfdurchbrüchen – den besten Schutz vor Covid-19, zumindest nicht so schwer an Corona zu erkranken (siehe hierzu die Studie, auf die im verlinkten Artikel verwiesen wird)[2].

Doch das Thema Corona greift weiter. Auch wenn derzeit verständlicher Weise die größten Anstrengungen auf der Beendigung der Pandemie liegen, so ist es mir gerade jetzt ein Bedürfnis, das Positionspapier „Für ein neues Miteinander und Gesundheitsverständnis: 12 Schritte aus der Corona-Krise“ zu empfehlen, das Mitte Oktober von einem interdisziplinären Expert*innenkreis aus Deutschland und Österreich – verbunden mit einem Aufruf zur Unterzeichnung – veröffentlicht wurde. Unter den Autor*innen sind u.a. der Co-Gründer der Gemeinwohl-Ökonomie und Publizist Christian Felber, die (im Rahmen der Corona-Debatte in der Kritik stehende) Politikwissenschaftlerin und Publizistin Prof.in Dr.in Ulrike Guérot wie auch der ehemalige Präsident der Bundesärztekammer Berlins und Vorstandsvorsitzende des Verbandes der deutschen Präventologen Ellis Huber. Bitte schau dir dieses Papier an, wenn du magst, und steige in die Debatte.[3]

Empfehlung zur Unterzeichnung von „12 Schritte aus der Coronakrise“

Ich werde ich es einem Teil der Initiativen, mit denen ich verbunden bin, zur Unterzeichnung empfehlen. Denn ich finde, es ist imstande, eine Auseinandersetzung mit Corona in Gang zu bringen, die befördert, dass wir diese Pandemie wirklich als Auslöser für eine tiefgreifende (sozialökologische) Transformation nutzen können, die sich nicht nur auf die Veränderung der äußeren Strukturen beschränkt, sondern auch Räume öffnet, die ermöglichen, dass wir neue, konstruktivere Formen des Miteinanders finden – gerade, weil dieses jetzige Papier auf einem vorausgegangenen Dokument „Coronaaussöhnung“ beruht, das bei seiner Veröffentlichung – wie ich finde zurecht – in der Kritik stand. Ich wünsche mir daher sehr, dass das aktuelle „12 Schritte“-Papier eine Würdigung erfährt und nicht aufgrund seiner Vorgeschichte in der Schublade „Corona-Kritiker*innen – somit von vornherein abgestempelt landet.

Warum verdient „12 Schritte aus der Coronakrise“ Aufmerksamkeit?

Ich halte „12 Schritt aus der Coronakrise“ für wertvoll, weil es eine integrale und weitreichende Perspektive auf das Thema „Corona“ einnimmt und sich nicht allein auf das Für und Wider, das Einschätzen oder Bekritteln der Corona-Maßnahmen, beschränkt und dabei konstruktive Lösungsvorschläge vornimmt. Vor allen Dingen begreifen die Autor*innen erstens ihre Positionen als einen Prozess und eröffnen damit einen Debattenraum. Zweitens halte ich die Genese dieses Papiers für besonders bemerkenswert und beispielhaft in unserer komplexen Zeit. Sie ist offensichtlich das Ergebnis eines Lernprozesses – und für Weiterentwicklungen offen. Denn dieses am 15. Oktober veröffentlichte Papier hat, wie bereits erwähnt, einen Vorgänger, und diese erste Version (im Juli 2021 veröffentlicht als „Coronaaussöhnung“) las sich noch ganz anders – und wurde entsprechend kritisch beispielsweise im ARD-Faktenfinder[4] oder auch im Deutschlandfunk[5] aufgenommen.

Auf das Positionspapier zur „Coronaaussöhnung“ gehe ich in einem gesonderten Beitrag ein.[6]

Doch was enthält das aktuelle Positionspapier im Detail und warum halte ich es – neben der oben angeführten allgemeinen Einschätzung – für beachtenswert?

Hierfür sprechen meiner Ansicht nach vor allem folgende vier Punkte:

Punkt 1: Plädoyer für einen umfassenden pluralen, respektvollen Diskurs

Corona hat uns ordentlich durchgeschüttelt. Deswegen kann nicht genug betont werden, wie zentral wichtig ein achtsamer, von Respekt getragener Dialog ist.

SOS-Regeln von Juli Zeh

Dankenswerter Weise hat die Schriftstellerin Juli Zeh neben den technischen AHA-Regeln (Abstand, Hygiene beachten, Alltagsmasken tragen) darüber hinaus das Beherzigen von SOS-Regeln angeregt:

S = Sensibilität im Umgang mit fremden Ängsten

O = Offenheit für abweichende Positionen

S = Sorgfalt beim Formulieren der eigenen Ansichten

Denn genau diese Punkte beachten viele von uns viel zu wenig – und ich nehme mich da nicht aus – in der Diskussion um dieses „heiße Eisen“. Und ja, das schließt auch die „Regierungsseite“ ein. Wie vorschnell werden da oft Impfgegner*innen pauschal als Querdenker*innen diskreditiert, von führenden Politiker*innen wie auch Medien mit großer Reichweite. Eine differenziertere Betrachtungsweise wäre hier wünschenswert.

Umso hervorhebenswerter ist, wie umsichtig und respektvoll die Autor*innen von „12 Schritte aus der Coronakrise“ formulieren. So schreiben sie bspw. in Anerkennung der Arbeit der Bundesregierung und involvierten Expert*innen:

„Für die Politik ist das Management einer Pandemie eine extrem große Herausforderung. Nicht nur in der Risikobewertung, sondern vor allem in der Risikokommunikation und der Umsetzung der erforderlichen Maßnahmen. Eine Pandemie kann nur als Kollektiv erfolgreich bewältigt werden. Umso wichtiger ist ein pluraler Diskurs, Meinungsvielfalt und Respekt.“[7]

Diese Tonart zieht sich durch das komplette Papier. Sie verdeutlicht: Hier schreiben Demokrat*innen, die nicht Meckern, Besserwissen und Rechthaben wollen, sondern die an einem kooperativen, diskursiven Lösungsprozess interessiert sind – Im Respekt vor ihrem (virtuellen) Gegenüber. Diese Ansprache wie auch ein klares Bekenntnis zur Demokratie ließen andere Dialogversuche bisher vermissen (bspw. #allesaufdentisch[8]).

2. Für ein neues, ganzheitliches Gesundheitsverständnis

Getragen von dieser Haltung beziehen die Autor*innen gleichwohl Positionen, die derzeitigen Corona-Maßnahmen kontrastieren. Vor allen Dingen wünschen sich die Autor*innen ein neues, ganzheitliches Gesundheitsverständnis und eine gesundheitsfördernde Politik in Anlehnung an die Ottawa-Charta der Weltgesundheits-Organisation.

Damit einhergehend plädieren sie dafür:

  • nicht allein Impfungen, sondern auch die Stärkung des Immunsystems und das Wissen und die Erfahrungen der Psychoneuroimmunologie und der Gesundheitsökologie sowie weiterer medizinischer Disziplinen in die Prävention, Abwendung und den Immunisierungsprozess im Kontext von Corona zu integrieren,
  • die Krankheit Covid-19 zu weiteren Gesundheitsgefahren und ihren Auswirkungen ins Verhältnis zu setzen.

 

3. Ganzheitlicher Blick auf Corona und die Herausforderungen und Möglichkeiten

Besonders hervorzuheben ist, dass die Autor*innen sich nicht allein auf Corona-Maßnahmen und ihr Für und Wider im engeren Sinne beschränken, sondern, dass sie weitere Facetten beleuchten, die diese Pandemie in ihren Ursachen und Auswirkungen mit sich bringt. Insbesondere thematisieren sie:

  • Die soziale Dimension von Corona,
    denn die Coronakrise hat vor allem die Menschen mit geringen Einkommen und geringerem Bildungsgrad getroffen. Auch Frauen*, Migrant*innen und Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen sind stärker betroffen. Die Autor*innen plädieren dafür, diese Entwicklung zu berücksichtigen. Vor allem unterstützen sie Forderungen nach besser bezahlten und attraktiver gestalteten Arbeitsplätze in der Pflege sowie die Anerkennung und Aufwertung häuslicher Care-Arbeit. Außerdem fordern sie, dass das öffentliche Gesundheitssystem mit ausreichenden Steuermitteln ausgestattet werden soll.
  • Die Erfordernisse einer Wirtschaftsweise innerhalb der planetaren Grenzen
    Corona ist mutmaßlich eine Zoonose, die u.a. ein Ergebnis unserer bisherigen Wirtschaftsweise ist, die den Tieren ihren Lebensraum nimmt. Daher plädieren die Autor*innen für die Entwicklung einer Wirtschaftsweise, die die planetaren Grenzen wahrt. Bereits vorhandene Lösungsmöglichkeiten (Gemeinwohl-Ökonomie, Commons, Kreislaufwirtschaft, Postwachstumsökonomie) sollten gefördert werden.
  • Lizenzfreigaben der Pharmakonzerne, Gewinnbeteiligung der öffentlichen Hand
    In den letzten Monaten wurden dankenswerter Weise in Windeseile Impfstoffe entwickelt, die die Pandemie bekämpfen helfen. Dies war möglich, weil die Forschungsaktivitäten der Pharmakonzerne durch die öffentliche Hand finanziert wurden; zudem übernimmt sie die Haftung für eventuelle Schäden – nicht etwa die Pharmakonzerne. Entsprechend fordern die Autor*innen, dass die öffentliche Hand an dadurch generierten Gewinnen angemessen beteiligt werden muss (hier eine zusätzliche Idee: daraus könnten Fonds für weitere Forschungsvorhaben gebildet werden). Zudem sollten die Patente und Lizenzen frei gegeben werden, damit auch Länder des globalen Südens die Möglichkeit haben, ihre Bevölkerung in größerem Umfang als bisher möglich impfen zu können.

 

4.Plädoyer für eine neue demokratische Kultur

Im letzten Punkt des „12 Schritte Papiers“ wird noch einmal klar deutlich, wie sehr es davon durchdrungen ist, unsere Demokratie zu wahren – vielleicht sogar, Corona als Impuls zu sehen, unsere Demokratie auszuweiten und die Möglichkeiten der direkten Demokratie und Bürger*innenbeteiligung zu nutzen, um Aussöhnung herbeiführen zu können.

Insbesondere den Schlussimpuls des Papiers, einer „Politik des Zuhörens“ durch „Runde Tische“ den Weg zu ebnen, halte ich für beachtenswert. Er korrespondiert mit den Anregungen einiger Politiker*innen bei der konstituierenden Sitzung des 20. Deutschen Bundestages. In ihrer Antrittsrede als Bundestagspräsidentin etwa hob Birgit Bas hervor, während der kommenden Legislaturperiode Bürgerratsprozesse implementieren zu wollen, um das Vertrauen in „die Politik“ wiederherzustellen und um Begegnungen und Diskurse auf Augenhöhe zu ermöglichen.[9] Diese Aussage lädt dazu ein, den Dialog zur Coronaaussöhnung daran anknüpfend weiterzuführen.

Doch gilt es wohl erstmal durch die anstehenden Herbst-/Wintermonate zu kommen.

Mögen wir alle gesund bleiben und/oder genesen und immer mehr Vertrauen zueinander (zurück)gewinnen. Mögen wir unsere Demokratie bewahren, mögen wir uns durch Corona auf neues, wertschätzendes Miteinander besinnen.

 

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[1] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/corona-pandemie-ungeimpfte-100.html – abgerufen am 08.11.2021

[2] https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/impfdurchbrueche-impfquote-101.html – abgerufen am 08.11.2021

[3] Hier finden sich sowohl das „12 Schritte“-Papier sowie das „Coronaaussöhnungs-Papier als auch das Medienecho und weitere Infos: https://coronaaussoehnung.org/ – abgerufen am 07.11.2021

[4] https://www.tagesschau.de/faktenfinder/corona-ausssoehnung-101.html – abgerufen am 07.11.2021

[5] https://www.deutschlandfunk.de/felber-ueber-corona-aussoehnung-initiative-will-schieflage.694.de.html?dram:article_id=500449 – abgerufen am 07.11.2021

[6] https://make-world-wonder.net/corona-aussoehnung-kritikpunkte-am-papier-und-empfehlung-des-folgepapiers/ – abgerufen am 08.11.2021

[7] https://coronaaussoehnung.org/wp-content/uploads/2021/10/Fu%CC%88r_ein_neues_Miteinander_und….pdf – abgerufen am 07.11.201 – dort zu finden auf Seite 1

[8] https://allesaufdentisch.tv/ – abgerufen am 08.11.2021

[9] Hier anzusehen: https://www.bundestag.de/mediathek/?videoid=7532185#url=bWVkaWF0aGVrb3ZlcmxheT92aWRlb2lkPTc1MzIxODU=&mod=mediathek – abgerufen am 08.11.2021