Dieser Artikel ist in einer gekürzten Version in der aktuellen Ausgabe des großartigen Maas-Magazins von Anita Maas mit dem Schwerpunkt „Wandel“ erschienen)
Corona. Wer hätte das gedacht, dass sich im Frühjahr 2020 ein Virus einfach mal die Krone aufsetzt und von einem auf den anderen Tag weite Teile des öffentlichen Lebens stilllegt? Uns dazu aufruft, zu Hause zu bleiben, Distanz zu halten? Aus Liebe zueinander, für die Bewahrung unser aller Leben.
Die Natur atmete auf in dieser Zeit des Stillstands. Anfang April erlebten wir den reinsten Abend- und Nachthimmel seit Jahren; keine Kondensstreifen zerstörten den freien Blick. Auch die Gewässer klärten sich binnen weniger Tage. Zwar enttarnten sich die Bilder von Delfinen in Venedigs Hafenbecken schnell als Fake. Doch sie repräsentierten wohl die stille Hoffnung vieler, dass der Lockdown die Möglichkeit eröffnen könnte, den Schalter umzulegen, um unseren Showdown zu verhindern.
Die Corona-Chance nicht genutzt?
Obwohl der normale Alltag noch lange nicht eingekehrt ist und auch vielleicht nie ganz zurückkommt: Unsere Straßen sind schon längst wieder mit Autos vollgestopft. Die beschlossenen Konjunkturpakete hätten entschiedener in Richtung „Nachhaltigkeit“ geschnürt werden können.
Auch wenn die Abwrackprämie aufgrund des großen Drucks der Bevölkerung vom Tisch ist, läuft die Wirtschaft, wie wir sie bisher kannten, schon wieder fast im alten Rhythmus. Wachstum und Profitmaximierung sind ihr Hauptprogramm. Mit der Natur und ihren Ressourcen wird noch immer zu wenig gerechnet, obwohl diverse Studien genau das anmahnen und empfehlen.
„Wir sind dran“ titelt etwa der letzte Bericht des Club of Rome aus dem Jahr 2017 bedeutungsvoll. Nun endlich. Aber sowas von. Ja, WIR sind ebenfalls dran. Wenn wir nicht handeln. Das „Human-Kapital“, das nicht nur die Ressourcen dieses schönen Planeten ausquetscht, sondern auch sich selbst in die sinnlose Erschöpfung treibt, bestens organisiert in Millionen von Bullshit-Jobs.
Kommen wir aus dieser Nummer auch trotz Corona nicht mehr raus, weil wir weiter mitlaufen müssen, um all das kaufen zu können, was wir zu brauchen glauben?
Gibt es einen neuen Weg?
Klare Antwort: Ja, es gibt ihn. Nur: Verordnet wird er offensichtlich nicht. Denn beispielsweise mit dem Ende 2019 verabschiedeten Klimaschutzgesetz lässt die Bundesregierung die Konsequenz vermissen, die es bräuchte, um das notwendige 1,5 Grad-Ziel wirklich einzuhalten, damit uns die Welt nicht in ein paar Jahren um die Ohren fliegt.
Denn wenn wir nicht resoluter agieren, dann sind einige Kipp-Punkte in wenigen Jahren erreicht, die zur Folge haben, dass die Eisschilde schmelzen, der Meeresspiegel ansteigt, die Amazonas-Regenwälder austrocknen und kollabieren, der Permafrostboden auftaut, die Ozeane versauern und Methan aus den Meeresböden freisetzt. Nur als kleine Erinnerung.
WIR machen weiter!
Doch wenn es der Politik an Entschiedenheit fehlt, heißt das nicht, dass wir weiter abwarten müssen. Wir können schonmal anfangen, es anders zu machen. Dabei kann von Anfangen schon lange nicht mehr die Rede sein. Vielmehr geht es darum weiter zu machen und auf dem aufzusatteln, was sich in den letzten Jahrzehnten bereits formiert hat.
Dabei ist die Fridays For Future-Bewegung mit ihren vielfältigen Partner*innen wie den Scientists, Parents, Grandparents, Entrepreneurs und vielen weiteren Gruppierungen nur die Spitze des Eisbergs, die imstande war, am 20. September 2019 allein in Deutschland 1,4 Millionen Menschen auf den Straßen zu versammeln.
Tatsächlich formieren sich bereits seit Jahrzehnten gesellschaftliche Alternativen, die für ein gerechteres, achtsameres, liebevolleres Miteinander sowohl unter uns Menschen als auch mit unserer Mitwelt einstehen. Wir werden immer mehr.
Die vielfältigste Bewegung, die die Welt jemals gesehen hat
Anlässlich der Veröffentlichung seines damaligen Buchs „The Blessed Unrest“ (in deutscher Übersetzung: „Wir sind der Wandel. “) sagte der US-amerikanische Bestseller-Autor und Umweltschützer Paul Hawken bereits im Jahr 2007:
„Ich glaube von ganzem Herzen, dass wir Teil einer Bewegung sind, die größer und tiefer und weitgefächerter ist, als wir es uns in unseren kühnsten Träumen vorstellen können. Sie fällt komplett aus dem Radar der Medien, sie ist gewaltfrei, sie ist eine Graswurzelbewegung, sie benötigt weder Armeen noch Hubschrauber, sie hat keine zentrale Ideologie, und sie ist nicht von einem Mann angeführt.
Diese namenlose Bewegung ist die vielfältigste Bewegung, die die Welt jemals gesehen hat. Das Wort Bewegung selbst ist zu klein, um sie zu beschreiben. […] Sie hat viele Wurzeln, doch ihre originären Ursprünge liegen bei den indigenen Völkern sowie ökologischen und sozialen Strömungen. Dies ist eine Bürgerrechtsbewegung, eine Menschenrechtsbewegung, eine Demokratiebewegung. Diese Bewegung schafft die Welt von Morgen.“
In der Tat: WIR sind schon so viele und werden immer mehr.
Schon längst agieren wir nicht mehr allein. „Stoppt TTIP & CETA“, „Wir haben es satt“, „Fridays For Future“ – die großen Demos der letzten Jahre haben WIR gemeinsam als Bündnispartner*innen gemeistert. Kürzlich gelang UNS mit über 170.000 Unterzeichnenden eine der erfolgreichsten Petitionen seit langem. So darf der Bundestag sich nun mit dem Grundeinkommen beschäftigen. Und überhaupt: Wäre Corona nicht gewesen, hätten WIR, die Crowd, am 12. Juni 2020 im Berliner Olympiastadion die größte Bürger*innenversammlung Deutschlands erlebt. Petition über Petition verabschiedet.
Auch das Thema „Rassismus“ beschäftigt unser WIR. Der würdelose Tod George Floyds hat uns aufgewühlt und nicht nur auf die Straßen gehen lassen. Nun ist uns bewusst, dass viel zu viele von uns, Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe oder ihrer anderen kulturellen Wurzeln noch immer abwerten, weil diese Muster so tief verankert sind. Das nehmen WIR uns zu Herzen. WIR leben unser Ändern. Schritt für Schritt. In diesem Punkt wie auch in den vielen anderen Bereichen.
Doch, wer sind denn eigentlich WIR?
Nicht immer ist dieses WIR identisch, und das ist vollkommen okay und wird wohl auch immer so bleiben. Doch unsere Schnittmengen werden größer. Unsere derzeitige Herausforderung ist wohl noch, uns tatsächlich als WIR zu begreifen. Gemeinsam als WIR zu agieren. Noch nehmen WIR uns in erster Linie fraktal wahr, fühlen uns einzelnen Organisationen zugehörig.
Doch zunehmend reift unser Verständnis, dass in unserer vertrauensvollen Verbindung, unserem WIR, eine große Chance steckt. Die Chance, gemeinsam die Herausforderungen unserer Zeit doch noch zu meistern. Den Klimawandel abzuwenden. Den Hunger und die Armut zu beenden. Das Flüchtlingsproblem zu lösen. Den Müll zu minimieren, die Ozeane zu schützen, die Artenvielfalt zu erhalten. Den Weltfrieden herbeizuführen. Das geht nur gemeinsam. Mit uns.
Agenda 2030: Der Kompass für die Welt, die wir uns wünschen
Auch eine Schatzkarte, die uns den Weg durch den Wandel weist, gibt es schon. Dieser „Masterplan zur Weltrettung“, das sind die globalen Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen, auch Agenda 2030 genannt, zu denen sich die Staatschefs aller 193 Mitgliedsstaaten im September 2015 bekannt haben. Die 17 globalen Nachhaltigkeitsziele benennen ganzheitlich all die Großbaustellen, die wir als Menschheit geschaffen haben, erstmals vereint unter einem Dach. Du findest sie in der nebenstehenden Grafik versammelt. Tausende Expert*innen, die besten Menschen ihres Fachs, haben in einem jahrelangen Prozess ausgetüftelt, wie wir all diese Themen bis zum Jahr 2030 anpacken und lösen können.
Was für ein Meisterwerk, das leider noch immer ein Mauerblümchen-Dasein führt und wie ein pures Lippenbekenntnis daherkommt. Denn die Sache hat einen Haken: Die Spitzenpolitiker*innen dieser Welt haben diese Agenda 2030 zwar unterzeichnet, doch sie vermögen es nicht am Ball zu bleiben.
Sie brauchen UNS dafür.
Denn die Agenda 2030 verheißt uns nichts weniger als die Möglichkeit, dass wir als Weltgemeinschaft binnen zehn Jahren den Weg hin zu einem guten Leben für alle finden. Keine Armut, kein Hunger, keine Zerstörung des Planeten Erde mehr. Das kann kein Programm für Spitzenpolitiker*innen allein sein. Das ist unser aller Aufgabe – findet übrigens auch Papst Franziskus, der in seinem bisher einzigen TED-Talk im Jahr 2017 sagte:
„Die Zukunft der Menschheit liegt nicht allein in der Hand von Politikern, großen Anführern großer Unternehmen. Zwar haben sie enorme Verantwortung. Aber die Zukunft liegt vor allem in den Händen der Menschen, die den anderen als DU und sich selbst als Teil eines WIR erkennen.“
Die Agenda 2030 kann uns dabei als gemeinsamer, kognitiver, im Außen sichtbarer Kompass dienen – für unsere individuellen Handlungen wie auch für jene, die unser Kollektiv, unsere Gesellschaft, verändern. Denn unsere Verbindung reicht tiefer: WIR werden geführt durch etwas, das Paulo Coelho die Weltenseele nennt und in Südafrika als Ubuntu bezeichnet wird. Wenn WIR uns wirklich auf uns, unser gemeinsames WIR, einlassen.
Die Revolution der Zärtlichkeit: Geführt von der Weltenseele
Dieses WIR ist nichts, das sich faktisch vermessen ließe. Es ist dieses reine, klare Gefühl in dir, das außerdem zugleich zwischen uns schwebt und uns vereint, statt uns zu trennen. Diese Gewissheit, dass dein Handeln, deine Haltung gerade jetzt in diesem Moment richtig ist. Du und ich, WIR wissen es, wenn das so ist. Übrigens kann dieser Wir-Prozess genau bei dir beginnen und sich dann fortpflanzen. Wieder ein Zitat von Papst Franziskus aus seinem TED-Talk:
„Es reicht ein einzelnes Individuum, damit es Hoffnung gibt, und dieses Individuum kannst DU sein. Dann gibt es ein weiteres DU und ein weiteres DU, und es wird zu einem WIR. Hoffnung beginnt mit einem DU. Und wenn es zu einem WIR wird, beginnt eine Revolution. Die Revolution der Zärtlichkeit.“