Wie gut, dass unsere Gesellschaft ein immer ganzheitlicheres Verständnis von Krankheit und Heilung entwickelt, so dass

  • psychische Erkrankungen weniger stigmatisiert
  • toxische Verhaltensmuster aufgedeckt sowie
  • Werkzeuge der Persönlichkeitsentwicklung immer populärer

werden. Nur mal drei prominente Beispiele: Kurt Krömer bekannte sich öffentlich zu seiner Depression und ihrer therapeutischen Behandlung[1], die Schauspielerin Mimi Fiedler outete sich mit ihrer Alkoholsucht, die sie dank Therapie überwinden konnte[2]. Die Fitness-Influencerin Sophia Thiel zeigte sich mit ihrer Essstörung.[3]

Danke, dass diese Menschen und viele weitere Menschen ihre Popularität nutzen, um diese Krankheiten zu entstigmatisieren.

Persönlichkeitsentwicklung & Coaching boomen

Auch mit dieser Entwicklung einhergehend, boomt die Szene der Persönlichkeitsentwicklung. Hier verbinden sich Werkzeuge zum Auflösen toxischer Muster wie auch das Vermitteln von „Erfolgsprinzipien“. So waren im Jahr 2019 nach Angaben der International Coach Federation (ICF) weltweit 33 Prozent mehr Coaches am Markt als in 2018[4] – Tendenz auch und gerade in der Corona-Pandemie weiter steigend. Denn Coachings lassen sich ja auch digital geben; Onlinekurse zu diesen Themen werden immer populärer.

Das ist prinzipiell eine gute Entwicklung, denn in so manchen von uns ist viel destruktiver Shit verborgen, der sich über Generationen hinweg angesammelt hat und lange totgeschwiegen wurde – Stichwort: transgenerationale Traumata. Das äußert sich in Süchten und psychischen Erkrankungen. Die jetzt thematisiert werden und die es zu überwinden gilt.

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Ein Geschäftsmodell, das mit der Sehnsucht nach Heilung spielt

Doch weil wir eben im Kapitalismus leben, geht damit eine weitere Entwicklung einher. Die Sehnsucht nach Heilung wird zum lukrativen Geschäftsmodell. Krautreporter Martin Gommel beschreibt diese Entwicklung in einem aktuellen Artikel – meiner Ansicht sehr treffend – als

„eine Art Turbokapitalisierung unserer Gefühle, Lebenssituationen und Krisen,

die Coaches (…) sich zunutze machen“.

Für den Artikel hat der Krautreporter den Onlinekurs TOTAL ABUNDANCE bei Laura Malina Seiler, einer der Pionier*innen und populärsten Vertreter*innen aus der Szenerie der Persönlichkeitsentwicklung besucht. Sein Fazit lässt sich schon aus der Überschrift ersehen: „Warum ich mich von Laura Malina Seiler verarscht fühle“.

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Die eine Seite: Sündenbock-Muster

Nun, auf der einen Seite ist natürlich diese reißerische Headline auch eine Methode, Aufmerksamkeit zu generieren. Genauso ein „profitables Business-Kalkül“. Kasse machen mit Emotionen, erfolgsgarantiert mit einem Promi. Zudem führt Martin Gommel eine einzige Person – Laura Malina Seiler – vor, um damit die Missstände eines Teils der Coachingszene aufzudecken.

Das folgt einem alten Sündenbock-Muster, das ich in der Gesellschaft, in der ich leben will, nicht mehr bezeugen möchte. Denn es produziert so viel Leid.

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Die andere Seite: ein zynisches Geschäftsmodell 

Und doch trifft Martin Gommel in seinem Artikel einen Kern, den es unbedingt anzuschauen gilt:

Er legt damit ein Narrativ frei, das ein Teil der Coaching-Szene bedient, ein Narrativ, das zutiefst zynisch, menschenverachtend und vulgärliberal[5] ist. Es suggeriert: „In deine Scheiße hast du dich selbst reingeritten, und wenn du drin sitzen bleibst, bist du eben selbst Schuld. Du, Looser*in, du!“ 

Zu meiner Verortung: Ich habe selbst über lange Jahre Coachingausbildungen absolviert und genossen, habe u.a. bei Veit Lindau gelernt, sogar als Redakteurin bei ihm gearbeitet und verwende nun so einige dieser hilfreichen Werkzeuge selbst in meinen Workshops und in meiner Arbeit als Autorin. Auch Laura Malina Seilers Podcast „Happy holy and confident“ habe ich ab und an gehört und einige Folgen für gut befunden (hier meine Lieblingsfolge „Sieben Sätze, die du dir selbst täglich sagen solltest“). In einem älteren Artikel habe einmal sogar Tobias Beck verteidigt, als er einen Shitstorm bekam.

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Coaching-Szene: Ein Teil von uns ist toxisch unterwegs

Mittlerweile sehe ich das ein wenig differenzierter. Denn mir wird für mich immer klarer: Ja, ein Teil der Persönlichkeitsentwicklungs-Szene ist toxisch, bedient sich manipulativer Muster – auch, weil wir in einem kapitalistischen System leben, das Wachstum, Wachstum, Wachstum braucht. Der Postwachsums-Ökonom Niko Paech beschreibt in seinem Buch „Befreiung vom Überfluss“ in die Notwendigkeit des Wachstums sehr anschaulich.

Es gilt immer neue Märkte zu erschließen,[6] es braucht die Kapitalisierung von allem. So wurden neben den realen bereits fast abgegrasten Räumen vor einigen Jahren die digitale Räume, das Internet, als Markt aufgetan. Nun sind auch unsere Innenwelten dran.

Und wir Coaches (also ein Teil von uns) machen da mit, lassen uns vereinnahmen von den Prinzipien des Raubtierkapitalismus. Sebastian Hotz beschreibt dies in seinem Roman „Mindset“ sehr anschaulich.

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Coaching-Werkzeuge: We need them for systemchange!

Dabei sind diese Coachingwerkzeuge an sich gut und wichtig. Wir brauchen sie sehr dringend, um gut durch diese Zeit multipler Krisen navigieren zu können – und damit vielleicht sogar Lösungsansätze zu entwickeln. Mal eine ganz große Vision gedroppt:

Hey, wie wäre es, mit diesen Werkzeugen den Kapitalismus, „diese Wirtschaft, die tötet“[7], dieses System, unter dem letztendlich die ganze Welt leidet, zu überwinden?

Doch okay, jetzt komm ich mal wieder runter, zurück zur Szene der Coaches und Persönlichkeitsentwickler*innen. Ja, diese manipulativen Muster, sie sind problematisch. Doch ich glaube (hoffe!) nicht, dass „der Coach an sich“ skrupel- und empathielos, sondern eher „im Grunde gut“ ist – und auch ebensolches bewirken möchte.

Im Grunde sind wir alle Gefangene dieses Systems, das sich Kapitalismus nennt – und das Gewinner*innen und Verlierer*innen produziert. Auf in den Kampf!

Glasklar: Wenn wir als Menschheit bleiben wollen, braucht es auf lange, konsequente Sicht einen radikalen Systemchange, das ganz große Ding.

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Doch wie sieht eine Zwischenlösung dahin aus?

Erste Schritte, um kurzfristig was zu verändern? 

Hier beobachte ich, dass sich einige Menschen aus der Szene – wie bspw. die Autorin und Psychologiestudentin Charlotte Raven – derzeit damit beschäftigen, wie die Coachingpraxis integrer werden könnte. Charlotte hat sich selbst jahrelang mit Persönlichkeitsentwicklung beschäftigt und ist „Opfer“ der manipulativen Methoden geworden, die einige Coaches praktizieren.

In ihrem Buch „Nicht noch ein Coachingbuch. Über eine Industrie, die mit Manipulation Milliarden scheffelt, indem sie mit der Psyche von Menschen spielt“ deckt sie diese Praktiken auf – und gibt auch Anregungen, wie sich dieser Geschäftszweig ethischer und integrer aufstellen ließe. Gut und wichtig, dass das gerade passiert. Es ist dran.

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Und was machst du?

Ein Appell an uns Coaches wie auch Nutzer*innen dieser Angebote

Lasst uns daraus aus diesen toxischen Mustern aussteigen. Sie tun auf lange Sicht niemandem gut. Lasst uns ehrlicher sein und ethischer werden. Damit sich im wahrsten Sinne des Wortes GUTE GESCHÄFTE aus diesem Coachingbusiness entwickeln.

 

[1] https://www.youtube.com/watch?v=xNc3rbIF_as – abgerufen am 20.05.2023

[2] https://www.youtube.com/watch?v=qC99CpQCRuw – abgerufen am 20.05.2023

[3] https://www.watson.de/unterhaltung/vor%20ort/478370479-sophia-thiel-fitness-influencerin-spricht-klartext-zu-mentaler-gesundheit – abgerufen am 20.05.2023

[4] https://coachingfederation.org/research/global-coaching-study – abgerufen am 20.05.2023 – wobei die ICF keine staatliche Institution und die Vergabe eines Zertifikats auch ein Geschäftsmodell ist. Doch die Erhebung der ICF zeigt die generelle Entwicklung: Coaching ist ein Wachstumsmarkt.

[5] Zur Beschreibung von „Vulgärliberalismus“ sei hier folgender Artikel empfehlen: https://www.deutschlandfunk.de/die-neuen-staatsfeinde-100.html – abgerufen am 20.05.2023

[6] Niko Paech (2012) „Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in die Postwachstums-Ökonomie“ – siehe insbesondere S. 29 ff.

[7] Bspw.: https://www.fr.de/panorama/diese-wirtschaft-toetet-11635535.html – abgerufen am 20.05.2023